Sollte nicht durch die Impfung alles besser werden? Sollte die Pandemie nicht endlich besiegt sein? Der Unmut in der Bevölkerung wächst. Tagtäglich erscheinen Berichte über Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und die Radikalisierung der Impfgegner. Auf der einen Seite erschreckend. Insbesondere, da radikale Bevölkerungsgruppen immer mehr neue Mitglieder gewinnen. Gerade in den neuen Bundesländern zeigt sich eine deutliche Radikalisierung und ein Zulauf für rechte Strukturen. Doch warum neigen Menschen in Zeiten der Krise zur Radikalisierung? Eine mögliche Erklärung liefert die Unsicherheits- Identitätstheorie. Der Theorie nach neigen Menschen beim Verspüren von Unsicherheit zur Radikalisierung und zur Unterstützung von extremen Gruppierungen, da sie sich in ihrem Selbstverständnis und in ihren Werten bedroht fühlen. Das Ziel dabei ist es, die verspürte Unsicherheit zu reduzieren oder auch der Wut und dem Ungerechtigkeitsempfinden entgegenzuwirken. Es ist eigentlich logisch, dass gerade in diesen Zeiten extreme Gruppierungen an Zuwachs gewinnen. Denn diese kritisieren das System und liefern plausible und „angenehme“ Antworten auf die Probleme der Menschen. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Menschen die Pandemie sehr hart getroffen hat- und immer noch trifft. Eine Familie zu ernähren ist bei den immer weiter steigenden Kosten für die Grundexistenz heutzutage nicht einfach. Nicht zu selten, ist jeder einzelne Euro verplant. Der Fall in die Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit bedeutet für viele Menschen den sozialen Absturz. Einige Branchen sind seit vielen Monaten so stark belastet und eingeschränkt, dass es vielen Betroffenen buchstäblich den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Ich denke insbesondere an die Künstler, Gastonomen, Veranstalter und Solo- Selbstständigen, die Tag für Tag kämpfen und ihr Lebenswerk vor sich in Scherben liegen sehen. Die Angst um die Existenz ist quälend und zermürbend.
Gerade in den neuen Bundesländern ist der Unmut seit Jahren sehr hoch. Deutlich schlechtere wirtschaftliche Strukturen, niedrigere Löhne, geringere Rentenansprüche und eine hohe Arbeitslosigkeit sind der Nährboden für Unsicherheit und Unzufriedenheit in diesen Regionen. Und nun auch noch diese langandauernde Krise und politische Vertreter, die mit oft widersprüchlichen Aussagen und Versprechungen um sich werfen. Perfekte Bedingungen für extremistische Bündnisse, welche die Unsicherheit der Menschen aktiv nutzen und den Hass weiter schüren. Ich denke, es ist falsch mit dem Finger auf „die bösen Impfgegner“ und „die Extremisten“ zu zeigen. Denn die empfundene Ungerechtigkeit ist ein Produkt unserer gesellschaftlichen und der herrschenden wirtschaftlichen Strukturen. Zu lange schon wird die Spaltung der Gesellschaft in zwei Gruppen stillschweigend toleriert und akzeptiert. Und ich meine damit nicht in „Geimpfte“ und „Ungeimpfte“. Nein, ich meine damit die Teilung zwischen Wohlstand und dem Leben am Rand der Gesellschaft. Im Grunde genommen geht es bei vielen der Protestanten meiner Meinung nach nicht um die Impfung an sich. Es geht darum, dass sich immer mehr Menschen in diesem Land nicht gehört fühlen. Dass sie unter finanziellen Sorgen und einer fehlenden Teilnahme am gesellschaftlichen Leben leiden. Und diese Situation hat sich in den Zeiten der Corona- Pandemie noch weiter zugespitzt und wird natürlich von den Drahtziehern der extremen Gruppierungen genutzt. Denn die Vertreter dieser Gruppierungen hören den Betroffenen vermeintlich zu, wenn auch nur zu eigennützigen oder politischen Zwecken. Und genau das, macht diese Gruppierungen so gefährlich. Die Vertreter suchen bewusst nach „den Unzufriedenen“ in unserer Gesellschaft. Sie verbreiten gezielt falsche Informationen, um die Standpunkte der Kritiker zu untermauern. Sie gewinnen vermeintliche Experten für sich, um ihre Argumentationen zu stützen. Denn, es ist immer einfach zu kritisieren, wenn man keine Verantwortung trägt. Doch wie man bei den Wahlergebnissen in den neuen Bundesländern gesehen hat, treffen die leeren Versprechungen bei immer mehr Menschen auf ein offenes Gehör. Und dagegen hilft auch kein „striktes und radikales Vorgehen“, jedenfalls nicht gegen die „Mitläufer“ dieser Gruppierungen. Auch Spaltung und Deklassierung sind unangebracht. Nur eine gezielte Aufklärung und die Einhaltung von politischen Versprechungen können diesen extremen Drahtziehern entgegenwirken. Und was noch viel wirksamer wäre, ist Toleranz, Respekt und vor allem Empathie für die Situation vieler Menschen dieses Landes.
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