Vivien Catharina Altenau schreibt sich nach Hause

CityGlow

12. November 2021

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Eine Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte

„Sturmwolkenblau – eine Reise in das Ich“

„Eine Flasche Wein kann für einen Abend lang entzücken. Und am nächsten Morgen vielleicht auch ein wenig zerrütten. Ein Kuchen kann dich für einen Moment lang entzücken. Zwei Stücke Kuchen hingegen machen eventuell in der nächsten Woche unglücklich. Der daraus resultierende Salat macht nur manche glücklich. Ein Buch hingegen macht auch glücklich, wenn es unglücklich macht. Paradox, aber die Essenz dessen, warum Lesen das Leben auf gewisse Weise breiter, tiefer und voller macht. Aber Achtung, es muss bedacht werden, dass jeder eine andere Buchstabenkombination braucht, um den Schlüssel zur eigenen Fantasie umzudrehen und in die Sphären der Leseliebe zu gleiten. Jedes Buch riecht auf seine ganz eigene Art und Weise besonders. Denn abhängig davon, in welche Welt dich die Geschichten hineinziehen, je nachdem an welche Orte zu welcher Zeit sie dich verschleppen, so variiert auch der Geruch der Seiten zwischen vanillig (Kitsch-Kirsch-blütenbaum-Cover-Bücher!) bis modrig (die richtig krassen Krimis!). Und manchmal, wenn das Meer seine Wellen schon fast aus den Buchdeckeln hinaus schreibt, dann kann man sogar ein kleines bisschen Salz auf der Zunge schmecken, das Rauschen hören und den Sand unter den Füßen spüren. Bücher machen mich zur Missionarin, betreuen mich psychologisch, lassen mich Abenteuer erleben und bleiben meine einzigen, tatsächlich bedingungslosen Freunde.“, das ist es, warum wir lesen (müssen, können und dürfen). Für die Autorin  Vivien Catharina Altenau steht wohl definitiv fest: Literatur stärkt die Seele. In ihrem Roman „Sturmwolkenblau“ erzählt die junge Frau eine, vielleicht sogar ihre Geschichte zwischen Leben und L(i)eben. Um was es genau geht, finden wir erst während des Romans heraus, oder auch nicht? Und so ergeht es vielen Lesenden dieses außergewöhnlichen Buches: Am Ende erfuhren sie wohl mehr über sich selbst, während die (Anti)heldin der Buchseiten noch immer ein unerklärliches Rätzel bleibt.

Aber versuchen wir dennoch kurz konkret zu werden: Die Autorin beschreibt die Lebensausschnitte einer Frau, die geheimnisvoll und dramatisch zu gleich sind. Die Protagonistin befindet sich in einem Spannungsfeld, das wohl so einige von uns auch kennen mögen. Gefangen zwischen den eigenen Überzeugungen und den gesellschaftlichen Ansprüchen, ein Abarbeiten am eigenen (Ver)mögen, den Unsicherheiten, dem Loslassen, Fortgehen, dem Bleiben und nicht zuletzte stellt sich die Frage: Wie kann eine ehrliche Beziehung funktionieren, wenn die eigene Identität immer wieder Steine in den Weg legt. Die Furcht vor Nähe, bei gleichzeitiger Verlustangst und dem dringenden Bedürfnis nach irgendeiner Form von Resonanz in der Welt. Klingt paradox; ich wette aber: Wir alle wissen, was hier gemeint ist. „Diesen Abgrund, diese Tiefe in ihr mochte sie.“, heißt es an einer Stelle im Roman. Und so bleibt wie so vieles im Leben der namenlosen Protagonistin eine Annäherung. Schrittweise erschreibt sie sich die Annahme ihrer Schwächen, aber auch Stärken. Sie wagt es, ihren latenten Wahnsinn zu leben, sich loszulösen, eine neue Stadt zu wagen. Und sie bleibt nicht unbelohnt: Denn sie findet einen Ort. Vielleicht sogar ein Zuhause?

Einerseits von Qualen der Öffentlichkeit andererseits durch die eigene familiäre Sozialisation geprägt, bleibt die Schreibende wertschätzend gegenüber jedem Detail ihrer Umwelt. Teils poetisch beschreibt sie die kleinen Feinheiten ihrer Umgebung, genauso wie die großen existentiellen Zweifel, die für sie ein täglicher Überlebenskampf bedeuten. Die Lesenden lernen die Protagonistin Seite für Seite näher kennen und dürfen in die Weiten der Buchstabenwelt eintauchen. Eine rasante Achterbahnfahrt in höchster literarischer Qualität. Warum wir das alles mitmachen sollten? Weil es aufregend ist! Und vielleicht auch, weil wir es ebenso wollen. Aus dem ständig gleichen Trott ausbrechen, die Extreme leben, auch wenn es schmerzt. Das ganz große Leuchten, auch wenn es brennt. Nur um dann wieder ganz ruhig und bedächtig zu werden. Wir spüren das eigene Bedürfnis uns endlich mal wieder hinzusetzen; uns und unser Leben aufzuschreiben, neu zu interpretieren und vielleicht ein paar Zweifel auf der hohen See der Alltagsdebakel über Bord zu werfen. Intelligente Wortverdreherei und Poesie regen zum Nach- oder Zerdenken an. Was genau der richtige Weg für die Protagonistin ist oder was sie braucht, bleibt durch die mysteriöse und spannende Schreibweise der Autorin im Dunklen verborgen. Bemerkenswert ist die Überlebenskraft, die sie sich durch das therapeutische Schreiben, wie es in Fachkreisen heißt, nach und nach aufbaut. Hierfür wird die eigentliche Handlung immer wieder durch kleine Kapitel mit dem Titel „Schreib mich nach Hause“ unterbrochen, und beschreibt genau das: Den Prozess des Schreibens. Man addiere noch Kapitel, in denen Gedankenschnipsel philosophieren und die Welt spiegeln. In welche Richtung es weitergehen wird, ist ungewiss. Eine Spannungsbogen ist dennoch erkennbar: „Gelegentlich gehe ich zwischen den Zeilen verloren, aber ich verliere mich nicht mehr in jedem Absatz, denn ich bewahre meine Selbstachtung als Lesezeichen.“ Bis sich das Ganze auf ein rasantes Ende hin zuspitzt. Danach sind wir kein bisschen weiter als am Anfang, oder doch? In jedem Fall werden sie sich, so wie ich und unsere Protagonistin und vermutlich auch die Autorin selbst von einigen aufmüpfigen Dämonen befreit fühlen. Und so bleibt nur noch zu sagen:

„Jedes Wort auf diesen Seiten ist die Wahrheit. Kein Synonym wäre möglich gewesen, denn ich sage nie, was ich denke, aber schreibe immer, was ich meine. Mein Alphabet legt mir meine Spur zum Spielplatz meiner Seele. Ich schreibe für die Einsicht, ich schreibe für eine Aussicht. Meine Wortwiederholungen stellen die Diagnose meines Zustandes. Erfahrungen sind die Grundlage meiner Reflektion und die Ausgangslage meiner Fantasie. Beim Schreiben versteht mich der Verstand und dann – ja dann verlässt er auf leisen Sohlen den Raum, winkt noch einmal durch das Zeitfenster, dass mir für meine schriftliche Praxis zur Verfügung steht, bis er endgültig abhandengekommt. Und wenn der Alltag dann in weite Ferne gerückt ist, beginnen die Worte zu flüstern. Sie säuseln und wispern, entkleiden die Illusionen, murmeln und tuscheln. Buchstaben brabbeln bedürftig, piepsen und glucksen. Sätze sieben neue Perspektiven aus und ergreifen aus der Tiefe ihren Sinn. Aussagen vermitteln Annahmen. Ganze Seiten zischeln vor Verlangen, rascheln, nuscheln, japsen und raunen. Schreiben heißt hinhören, zuhören und vor allem nicht aufhören

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